Liebe Gemeinde,

während ich diese Zeilen schreibe, liege ich kränkelnd auf dem heimischen Sofa. Um mich herum ist es still geworden.
Wenige Geräusche dringen von draußen zu mir hinauf. Daran habe ich mich fast gewöhnt: Seit Wochen ist es irritierend still in unseren Straßen. Nur wenige Autos sind unterwegs, Cafés, Galerien, Kneipen liegen schon lange geschlossen da. Allein die Fahrräder haben gerade Hochkonjunktur – besonders bei Sonnenwetter. Auch
ich ziehe mittlerweile das Fahrrad der S-Bahn vor, um nach Baumschulenweg oder Johannisthal zu gelangen. Es ist eine lange Strecke, aber sie ist mir vertraut geworden. Sie führt mich durch Mitte, Kreuzberg, Alt-Treptow. Erleichtert atme ich auf, wenn ich die Köpenicker Straße verlassen darf – dort fahren mir zu viele Lastwagen. Ich habe das Stück Mauerradweg entdeckt, das sich am Heidekampgraben entlangschlängelt. Und ich genieße die Ruhe der Königsheide und Begegnungen mit unterschiedlichsten Spaziergängern. Ich habe endlich den kleinen Amphibienteich entdeckt und lenke meinen Weg daran vorbei, wann immer mir die Zeit dafür bleibt.
Aber nun erlebe ich zum ersten Mal während der ganzen Corona-Zeit am eigenen Leib, wie es ist, das Haus nicht mehr verlassen zu können, auf Botengänge durch andere angewiesen zu sein. Ich merke, wie trist es sein kann, die Außenwelt nur noch durch Fensterscheiben wahrzunehmen. Andere erzählen mir, wie das Wetter ist, wo neue Baustellen entstehen oder wem sie unterwegs begegnet sind. Dabei weiß ich ja, dass ich bereits in einigen Tagen wieder das Haus verlassen kann.
Da kommen mir viele Menschen aus unseren Gemeinden in den Sinn – an sie habe ich schon die letzten Wochen oft gedacht, mit manchen habe ich telefoniert oder bin ihnen in unseren offenen Kirchen begegnet. Aber so viele habe ich auch wochenlang weder gesehen noch gesprochen. Während ich matt am Fenster stehe und auf das Leben dort unten hinabschaue, habe ich diese Menschen vor Augen: Ältere, Alleinstehende, Geschwächte, auch Kinder, Jugendliche, Berufstätige, Einsame, Überlastete, die allesamt nicht wissen, wie es weitergehen wird. Und jede, jeder von ihnen ist mit eigenen Fragen oder Zweifeln allein.
Manche von Ihnen haben vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht – angewiesen auf die Unterstützung durch andere, untätig die Zeit verbracht. Einige hat es schwerer getroffen. Sie haben neben der Abgeschiedenheit auch noch Beschwerden zu ertragen, leben isoliert in Pflegeheimen oder Krankenhäusern. Wieder andere wissen gar nicht, wo ihnen vor lauter Verpflichtungen der Kopf steht.
Im ersten Buch der Könige betet König Salomo anlässlich der Einweihung des Tempels zu Gott. Dabei hinterfragt er auch den Sinn eines solchen Gotteshauses.
„Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“
(1 Kön 8, 27)
Brauchen wir Gotteshäuser, brauchen wir überhaupt Kirchen, um uns an Gott zu wenden in unserer Not und Angst, im Danken und Loben? Für Salomo bot dieser Ort die Möglichkeit, zu Gott in Beziehung zu treten, in guten und vor allem auch in schlechten Zeiten.
Dieses Beziehungsgeschehen hat zwei Richtungen. Menschen dürfen sich an Gott wenden, und sie können darauf hoffen, dass Gott sie hört und sich um sie kümmert.
Sorgen und Widrigkeiten kommen in diesem Gebet verdichtet zur Sprache:
„Wenn eine Hungersnot oder Pest oder Dürre oder Getreidebrand oder Heuschrecken oder Raupen im Lande sein werden oder sein Feind im Lande seine Städte belagert oder irgendeine Plage oder Krankheit da ist – wer dann bittet und fleht, es sei jeder Mensch oder dein ganzes Volk Israel, die da ihre Plage spüren, jeder in seinem Herzen, und breiten ihre Hände aus zu diesem Hause, so wollest du hören im Himmel, an dem Ort, wo du wohnst, und gnädig sein und schaffen, dass du jedem gibst, wie er gewandelt ist, wie du sein Herz erkennst – denn du allein kennst das Herz aller Menschenkinder –, auf dass sie dich fürchten allezeit, solange sie in dem Lande leben, das du unsern Vätern gegeben hast.“
(1 Kön 8,37-40).
Ein Haus kann Gott nicht fassen. Das weiß schon Salomo, bei aller Pracht und Herrlichkeit seines frisch errichteten Tempels. Jenes Haus – es ist doch vor allem ein Ort, an dem Gottes Gegenwart vermutet wird. Es zeigt die Richtung an, von der her sein Hören und Handeln angenommen werden – und seine Zuwendung uns gegenüber, die wir darauf so angewiesen sind. Das Haus ist ein Symbol für Gottes gnädiges Dasein für die Menschen.
„Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder.“
So wiederholt es der Juni-Monatsspruch aus jener Episode. Es ist schön, die vielen Kirchen unserer Stadt um sich zu haben. Wenn ich an meinem Fenster stehe, höre ich um 18 Uhr das Geläut der benachbarten Kirchen. Die Glocken verbinden uns, auch in Zeiten, in denen das Feiern gemeinsamer Gottesdienste noch mit Fragezeichen versehen bleibt. Sie trösten über Distanzen hinweg.
Als Botschafter unserer Gotteshäuser vergewissern sie uns, dass Gott die Herzen seiner Menschenkinder kennt und sich ihrer annimmt, gerade dann, wenn sie sich vergessen und verlassen fühlen vor dem Tempel. Er spricht in diese verrückte, einsame, verwirrende Zeit einer globalen Pandemie hinein. Denn er markiert die Gegenrichtung unserer Gebete: Gott weiß um uns. Er sieht uns, ganz gleich, wo wir uns befinden und in welchem Gemütszustand. Er kennt unsere Herzen und sieht auf sie, auch wenn sie sich gerade nicht um ein Gotteshaus, in einer Kirche versammeln.
Ihre Julika Wilcke
