Gottesdienst am Sonntag Rogate | 17. Mai 2020

Votum und Gruß

Jubilate! Kantate! Jubelt! Singt! – So hieß es an den letzten beiden Sonntagen. Das haben wir auf ungewohnte Weise getan – hinter Bildschirmen vielleicht oder durch den Mundschutz hindurch.

Heute heißt es: Rogate! Betet! Aber warum? Ist denn nicht mit Ostern schon der große Sieg errungen und alles Erhoffte geschehen? Wir sehen und hören jeden Tag, dass noch nicht alles gut ist.

Das Osterlicht scheint hell, aber noch haben wir Ängste, Hoffnungen und Zweifel. Darum beten wir auch heute noch.

Lied SJ 40 Kommt herbei, singt dem Herrn

Kommt herbei, singt dem Herrn, / ruft ihm zu, der uns befreit.:|
Singend lasst uns vor ihn treten, / mehr als Worte sagt ein Lied.:|

Ja, er heißt: Gott für uns; / wir die Menschen, die er liebt.:|
Darum können wir ihm folgen, / können wir sein Wort verstehn.:|

Menschen kommt, singt dem Herrn, / ruft ihm zu, der uns befreit.:|
Singend lasst uns vor ihn treten, / mehr als Worte sagt ein Lied.:|

Psalm 95

Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken
und jauchzen dem Hort unsres Heils!

Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen
und mit Psalmen ihm jauchzen!

Denn der Herr ist ein großer Gott
und ein großer König über alle Götter.

Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde,
und die Höhen der Berge sind auch sein.

Denn sein ist das Meer, und er hat’s gemacht,
und seine Hände haben das Trockene bereitet.

Kommt, lasst uns anbeten und knien
und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.

Denn er ist unser Gott
und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.

Tagesgebet

Gott, wie sollen wir zu dir beten? Welche Worte sind die richtigen, wie können wir dich
erreichen? Wir sind oft so unsicher, dann fühlen wir uns unerhört und arm an Sprache.
Lass uns Worte finden für das, was wir von Dir erhoffen, für die Kraft und die Hilfe, die wir von Dir erbitten. Lass es uns nicht vergessen, lehre uns zu beten durch deinen Sohn – er selbst hat zu dir gebetet wie ein Kind zu seinem Vater. Danke für sein Beispiel. Amen.

Evangelium: Matthäus 6, 5-15

Jesus lehrte seine Jüngerinnen und Jünger und sprach:
Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Lied EG 9 Unser Vater

Bist zu uns wie ein Vater, / der sein Kind nie vergisst. /
Der trotz all seiner Größe / immer ansprechbar ist.

Deine Herrschaft soll kommen, / das, was du willst, geschehen.
Auf der Erde, im Himmel / sollen alle es sehn.

Gib uns das, was wir brauchen, / gib uns heute unser Brot.
Und vergib uns den Aufstand / gegen dich und dein Gebot.

Vater, unser Vater, / alle Ehre deinem Namen.
Vater, unser Vater, / bis ans Ende der Zeiten… Amen.

Lehre uns zu vergeben, / so wie du uns vergibst.
Lass uns treu zu dir stehen, / so wie du immer liebst.

Nimm Gedanken des Zweifels / und der Anfechtung fort.
Mach uns frei von dem Bösen / durch dein mächtiges Wort.

Deine Macht hat kein Ende, / wir vertrauen darauf.
Bist ein herrlicher Herrscher / und dein Reich hört nie auf.

Vater, unser Vater, / alle Ehre deinem Namen.
Vater, unser Vater, / bis ans Ende der Zeiten… Amen.

Ansprache

„Daumen halten!“ flüstert Luise aufgeregt. Vier kleine Daumen werden von vier kleinen Händen umklammert und gedrückt. Lotte bewegt tonlos die Lippen. „Betest du?“, fragt Luise. Lotte nickt. Da fängt auch Luise an, die Lippen zu bewegen. „Komm, Herr, Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast!“, murmelt sie halblaut. Lotte schüttelt unwillig die Zöpfe. „Es passt nicht“, flüstert Luise entmutigt. „Aber mir fällt nichts anderes ein. – Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne…“

Kennen Sie diese kleine Szene? Da stehen die Zwillinge Luise Palfy und Lotte Körner vor der verschlossenen Tür, hinter der sich ihre Eltern über ihre Zukunft beraten. Neun Jahre ihres Lebens haben die beiden getrennt voneinander gelebt, ohne voneinander zu wissen. Nur durch Zufall sind sie sich in einem Ferienlager begegnet, haben beschlossen, die Rollen zu tauschen. So ist Lotte zu ihrem ihr unbekannten Vater nach Wien, Luise zu ihrer unbekannten Mutter nach München gefahren. Viele Abenteuer später ist nun die Familie wieder vereint – aber nur vorläufig. An ihrem 10. Geburtstag wünschen sich die Mädchen nur das eine und einzige: dass sie für immer zusammenbleiben können und die Eltern sich wieder versöhnen.

Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast!

Ein geprägtes, vertrautes Gebet in gereimter Form, sodass es sich besonders gut merken lässt. Manche Familien beten es vor den Mahlzeiten. Man kann es auch wunderbar singen. Aber es bleibt doch sehr situationsbezogen.

In diesem Fall scheint es tatsächlich überhaupt nicht zu passen. Wie kommt Luise dazu, so einen Unsinn daher zu beten? Wo es doch um ihre ganze Existenz geht, um das zukünftige Schicksal einer Familie, den sehnlichsten Traum überhaupt. So kann das ja nichts werden! Ich kenne das. In besonders entscheidenden Momenten des Lebens möchte man sich unbedingt an Gott wenden, es scheint nur durch Beten noch eine Wendung, eine Lösung möglich zu sein. Und dann fällt das Beten so besonders schwer. Da fehlen die richtigen Worte, nichts scheint angemessen genug, um Gott bewegen zu können. Und dabei geht es doch gerade jetzt um so viel.

Gerade jetzt geht es um so viel. – Ich vermute, dass in den vergangenen Wochen sehr viel gebetet worden ist rund um unseren Globus. Beten wird Hochkonjunktur gehabt haben, sicherlich auch die Sprachlosigkeit von Betenden, denen längst die Worte ausgegangen sind. Zu groß die Verzweiflung, so manche Stimme hat sich inzwischen heiser geschrien.

Ich kenne die Unsicherheit in Sachen Beten. Luise kennt sie. Und ich erlebe, dass es vielen anderen auch so geht. Auch den Evangelien ist dieses Problem nicht unbekannt. Bei Lukas heißt es in der Einleitung zum Vaterunser: „Herr, lehre uns beten…“

Mit dem Vaterunser will Jesus den Menschen das Beten an sich beibringen. Er will ihnen zeigen, wie es geht – wie einfach es geht. Inszeniere dein Gebet nicht öffentlich, sondern geh dahin, wo du Ruhe hast. Mach die Tür zu und bete zu Gott, der genau dort, im Verborgenen ist. Persönlich und privat soll das Gebet sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob es nun in einer großen Kathedrale und unter hunderten von Menschen oder tatsächlich im eigenen Kämmerlein gebetet wird. Wichtig sind die Haltung und die Absicht des Betenden. Sie sollen persönlich, intim sein. So heißt es.

Und noch etwas anderes scheint Jesus wichtig: Wir sollen bloß nicht schwätzen, mit fantastischpoetischen Worten, die mich und mein Anliegen vor Gott besonders inszenieren. Sondern wichtig ist es, sich einfach zu konzentrieren auf das, worauf es wirklich ankommt. Gott weiß ohnehin, was wir brauchen – und zwar schon, bevor wir ihn darum bitten. Trotzdem lohnt es sich zu beten. Denn wenn ich bete, lasse ich mich darauf ein, mich im Licht dieses Anderen zu betrachten. Ich setze mich zu ihm als mein Gegenüber in Beziehung. Das kann entlastend sein.

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.

Auch dies sind vertraute Worte. In dem Moment, wo die „richtigen“ fehlen, fallen sie der
Zehnjährigen ein.

Hier stehen sie für das Gebet an sich. Ihr Inhalt spielt im Moment der Verzweiflung keine große Rolle. Viel wichtiger ist es dort vor der verschlossenen Tür, wo die um Versöhnung der Eltern bettelnden Mädchen die Dinge nicht mehr in der Hand haben, dass es überhaupt Worte gibt, die das hilflose Kind mit dem, der Macht hat, in Verbindung setzen. Es kann sonst nichts weiter tun, es gibt keine anderen Worte oder Wege mehr.

Lotte betet, und auch Luise beginnt zu beten so, wie es ihr in dem Augenblick zukommt. Sie greift nach Gebet, das für sie das Beten an sich symbolisiert. „Es passt nicht“, findet sie. Aber darauf kommt es gar nicht an.

Auch das Vaterunser ist so ein ritualisiertes Gebet – ja, es ist das Gebet schlechthin. In unserer Liturgie hat es seinen festen Ort. Und sogar in kirchenfernen Kreisen wird es geschätzt und ganz selbstverständlich gesprochen – vor dem Traualtar ebenso wie am offenen Grab – und das trotz (oder vielleicht gerade wegen), obwohl es so fremd und fern ist. Bei diesem Gebet geht es wie bei keinem anderen um das Beten an sich und überhaupt.

In den Abschnitten um das Vaterunser herum wehrt sich Jesus dagegen, dass man spendet oder fastet, um daraus einen Gewinn oder Nutzen zu ziehen. Ebenso deutlich betont er, dass auch das Beten keinem Zweck folgen soll. Beten ist nicht Mittel zum Zweck. Es will ein vertrauensvolles und geradezu intimes In-Beziehung-Treten sein, gerade in Augenblicken, die uns möglicherweise besonders intensiv spüren lassen, wie sehr wir angewiesen sind.

Aber die Fassung im Matthäusevangeliums betont noch etwas anderes: Das Beten des Vaterunser hat nur dann Sinn, wenn wir die besondere Beziehung, in die Gott uns setzt, auch anschließend auf unsere Mitmenschen anwenden: Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Vater, vergib! – So schlich ist die zentrale Bitte des Versöhnungsgebets von Coventry. Es wurde am 8. Mai gebetet, vor neun Tagen, als sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal gejährt hat. Dieser Gedenktag ist leider etwas klanglos an uns vorübergegangen – auch dies haben wir dem Coronavirus zu verdanken. Ihm sind eine Vielzahl von Gedenkveranstaltungen zum Opfer gefallen – hoffentlich bleiben sie nur aufgeschoben und sind nicht aufgehoben. Vater, vergib! Nach der Zerstörung der Kathedrale von Coventry in der Nacht vom 14. zum 15. November 1940 durch deutsche Bomben ließ der damalige Dompropst Richard Howard diese Worte in die Chorwand der Ruine meißeln. 1958 entstand das Versöhnungsgebet und wird seitdem an jedem Freitagmittag um 12 Uhr im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale in Coventry und an vielen Orten auf der Welt gebetet – auch hier in Berlin. Es ist sogar im Gesangbuch abgedruckt.

Dieses Gebet lebt von der schmerzhaften Einsicht in die eigene Schuld, persönliche wie kollektive. Das „Vater, vergib“ funktioniert wie ein Refrain – oder vielleicht eher wie ein Pulsschlag zwischen den vielen Schuldeingeständnissen. Das Gebet mündet in den Ausspruch aus dem Epheserbrief: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“ In diesem Gebet nimmt die Einsicht Gestalt an, dass Vergebung nicht unsere Leistung ist, niemals sein kann, sondern dass Versöhnung auch im aktiven Tun immer eine empfangende Gabe Gottes bleibt. Verdrängen, das können wir leichter. Absehen von Schuld, vielleicht auch daran vorbeisehen. Der Begriff Versöhnen kommt vom mittelhochdeutschen Versühnen. Die Kluft, die durch die Schuld, die Sünde, entstanden ist, muss versühnt werden. Für uns klingt aber auch das Wort Sohn mit. Wie Gott zu seinem Sohn, so darf auch der versöhnte Mensch in eine neue, heilvolle Beziehung treten – nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Liebe, mit der sich Gott ihm zuwendet – unter anderem im Gebet, im intimen Gespräch.

Schade eigentlich, dass Luise Palfy im entscheidenden Moment nicht das Vaterunser eingefallen ist. Aber auch ihr sind Worte zugefallen, die für das Beten schlechthin stehen. Mit Worten wie diesen kann ich beten, auch wenn ich eigentlich nicht beten kann.

Amen.

Lied zur Fürbitte SJ 162 Liebe bist du

Liebe bist du, Quelle des Lebens, / Segen für alle, Licht für den Tag, / uns zugewandt, schenkst du Versöhnung – / Kelch, der das Wasser wandelt in Wein.

Uns steht die Welt unverdient offen, / doch wir misshandeln sie täglich neu; / was wir getan, unsere Fehler, / Missbrauch der Macht verdunkelt das Licht.

In deiner Gnade, in deiner Güte / kehr uns zu dir, Gott, verwandle die Welt, / kehr uns zu dir, Gott, verwandle die Welt!

Schrecken und Leid, offene Wunden, / Herzen, die unsre Furcht nicht verstehn; / Misstraun und Leid, gieriges Raffen, / Krisen und Streit ziehn uns in den Staub.

Lass uns still stehn, auf andre achten, / und deinen Willen einträchtig tun. / Sorgfalt lehr uns, Mut zur Vergebung, / Reichtum zu teilen, den du uns gibst.

In deiner Gnade, in deiner Güte / kehr uns zu dir, Gott, verwandle die Welt, / kehr uns zu dir, Gott, verwandle die Welt!

Sendung und Segen

In der neuen Woche segne, begleite und behüte uns der dreieinige Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Amen.