Das wäre allemal ein Anlass zum Feiern gewesen: Am 18. April 1521 stand der eigentlich völlig unwichtige Mönch Martin Luther vor Kaiser und Reich, auf dem Wormser Reichstag. Der Verhandlungsgegenstand bzw. die Person stand nicht einmal auf der Tagesordnung, der Punkt wurde eingeschoben und im Nebenraum abgehandelt. Doch heute wissen wir von diesem Reichstag, weil diese Nebensache dort zur Verhandlung kam.
Es gibt verschiedene Angaben darüber, wann aus dem Mittelalter die Neuzeit wurde. Was war der Knackpunkt: Gutenberg und der Buchdruck, Kolumbus und die neue Welt, Kopernikus mit der Sonne und nicht mehr der Erde im Mittelpunkt? Der Auftritt Luthers auf dem Wormser Reichstag war in seiner Wirkung eine Zeitenwende, vielleicht tatsächlich die entscheidende. Nicht durch unmittelbaren Folgen, Beschlüsse, sondern weil mit diesem unerhörten Auftritt etwas begann, was nicht mehr aufzuhalten war und die so festgefügt scheinende Welt aus den Angeln hob und verändert hat. Und damit meine ich nicht die theologischen Sachverhalte, die vordergründig verhandelt wurden.
Luther war vom Kaiser eingeladen worden, um Erkundigung über seine Lehre einzuholen. Das versprach ein ernsthaftes Interesse an der Sache. Am 17. April vor Ort klang das dann ganz anders: Er hätte nur zu widerrufen. Luther war davon überrascht und bat um Aufschub. Ein Tag wurde ihm gewährt, dann solle er sich mündlich äußern, immerhin.
Am 18. April am Nachmittag hat Luther zunächst geschickt unterschieden zwischen:
- erbaulichen Schriften. Gegen die habe doch niemand etwas und er könne sie deshalb nicht gut widerrufen.
- Schriften gegen den Papst und seinen Machtmissbrauch. Das war besonders hintersinnig, denn genau die „Gravamina der deutschen Nation“ bestimmten die Tagungsordnung des Reichstags über Wochen. Mit deren Widerruf würde er die Tyrannei nur verstärken.
- Schriften gegen Personen. In denen hätte er, das räumt er ein, wohl oft zu scharf geurteilt.
Auf nochmalige Aufforderung zum Widerruf hin erklärte Luther: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Heiligen Schrift oder klare Vernunftgründe widerlegt werde (denn weder dem Papst noch den Konzilien glaube ich, da es feststeht, dass sie des Öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben), so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen und ist mein Gewissen in Gottes Wort gefangen. Widerrufen kann und will ich nichts, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch redlich ist. Gott helfe mir. Amen.“
Am Schluss ist das keine Heldenpose und auch keine sture Rechthaberei: Sich selbst angesichts der geballten weltlichen Macht auf Gottes Hilfe anzuweisen ist eher ein Akt der Bescheidenheit. Das berühmte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ hat Luther der Nachricht für den Drucker angefügt, eigentlich wohl als Erklärung gegenüber diesem. Der Drucker hat den Satz dann aber mit abgedruckt und so berühmt gemacht, der Kaiser hat diese trotzige Pose nicht zu hören bekommen.
Es ist nicht einfach Sturheit oder Rechthaberei, mit der jemand seine eigene Ansicht absolut setzt: Luther besteht auf Wahrhaftigkeit, es kann nur als Wahrheit gelten, was glaubwürdig ist und sich als tragfähig erweist. Es zählen für ihn nur Argumente, nicht einfach so eine Gehorsam fordernde Autorität, die keine Rechenschaft über Grund und Sinn ihrer Anordnung ablegen muss. Luther besteht auf Erklärung.
Karl V. hat in seinem Bekenntnis am Folgetag den Punkt klar erkannt: Hier steht ein einzelner Mönch gegen 1500 Jahre Tradition und die Einigkeit ihrer Vertreter über Generationen. Aber genau das ist die Markierung, die überschritten wird und fortan nicht mehr alles Recht für sich proklamieren kann. Die Frage steht jetzt: Hat das, was so geworden ist, so wie es ist, recht?
Und noch mehr: Ein Einzelner gegen alle Anderen? Mehrheiten oder ein bisher gültiger Konsens gelten nicht automatisch: Alles muss sich bewähren. Jeder Mann (und eigentlich auch: jede Frau!) ist zu eigenem Urteil befugt und im Ernstfall sogar verpflichtet: Die Instanz ist das Gewissen, in dem die eigenen Urteile zusammenfließen. Und das ist das eigentlich Neue seit dem 18. April 1521 (Besserwisser werden nachrechnen, dass es wegen der späteren Kalenderreform gar nicht der 18. April unseres Kalenders war, sondern eher der 28.): Die Mündigkeit des Einzelnen, die Befugnis zu eigenständigem Urteil und die Emanzipation von den Instanzen, die vorschrieben, was zu glauben sei. Die Befugnis ist dann aber auch die Verpflichtung, sich sachkundig zu machen und sich um die Sachlichkeit des eigenen Urteils zu bemühen. Friedrich der Weise, Landesvater Luthers, hat gespürt, was passiert ist: „Er (Luther) ist mir zu kühn.“
Deshalb entspricht dieser Befugnis zum eigenen Urteil auf der anderen Seite: die Öffentlichkeit. Die Dinge müssen dann auch vor die Augen und alle Sinne der Menschen kommen: Wer nichts weiß, kann auch nicht Urteilen. Die Geschichte der Reformation ist auch die Erfindung der Öffentlichkeit. Es ist jedenfalls logisch und konsequent, dass als Nächstes in seinem Versteck auf der Wartburg das Neue Testament übersetzt und damit allen Menschen, auch denen, die kein Latein können, zur eigenständigen Urteilsbildung zur Verfügung gestellt wird. Mit Hilfe von Gutenbergs Erfindung und einer billiger werdenden Papierproduktion entsteht in den Jahren um 1520 überhaupt erst die Möglichkeit, zeitnah eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Luther hat auf diesem Klavier meisterlich zu spielen gewusst, sein Wirken ist auch eine Medienrevolution, gemessen an der unsere digitale Revolution ein Kinderspiel ist.
Im Zusammenspiel der Verantwortlich-Werdung jedes einzelnen Menschen, einschließlich auch der Frauen, mit dem unglaublichen Fortschreiten der Kommunikation über massenhafte Flugschriften geschieht der Schritt zur Neuzeit. Das ist und bleibt Martin Luthers historische Bedeutung und sein Verdienst: Am 18. April 1521 wurde die moderne Welt auf den Weg gebracht. Das wäre einen Feiertag wert gewesen. Der nachträglich hochgehaltene Thesenanschlag in Wittenberg am 31. Oktober 1517 erfüllt diese weitreichende Bedeutung noch nicht.
Dass dieses Zusammenspiel von persönlicher Verantwortung und Vergewisserung im öffentlichen Raum damals an einer theologischen Frage erstmalig und bahnbrechend durchexerziert worden ist, ist sicher kein Zufall. Es mindert aber nicht die allgemeingültige Bedeutung des Vorgangs damals in Worms.
Deutlich ist in dem Vorgang von damals aber, was dazugehört: ein ungeheurer Mut. Oder an seinem Helden deutlich: ein ungeheures Gottvertrauen, was im Falle Luther dasselbe ist: „Gott helfe mir. Amen.“
Daran hat sich seitdem nicht viel verändert.
Pfarrer Hartmut Scheel