Karfreitag 2. April – Baumschulenweg

Matthäus 27:

31 Und als sie Jesus verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen. 32 Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug. 33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes. Dies ist Jesus, der Juden König. 38 Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

Predigt:

Es war ein Tag, ganz anders als jeder andere. Denn es war ein Tag, an dem die Finsternis kam. Mitten am Tag. Und diese Finsternis war dunkler als alles, was ich bisher gekannt hatte.

Sie begann, als sie diesen Verurteilten zu uns brachten. Wir sahen ihn gar nicht richtig an, denn wir wussten, was wir mit ihm zu tun hatten. Alle um uns herum spotteten und machten sich lustig über ihn. Und so machten wir mit. Ich auch. Im Nachhinein erkannte ich mich selbst nicht wieder. Als wäre jegliches Mitgefühl in mir auf stumm gestellt. Sie haben ihn geschlagen und ausgepeitscht, während sie weiter lästerten, und ich habe mitgemacht. Es war wie in den Szenen, die ich bisher nur aus Bildern kannte: Menschen, die mit Giftgas und Pistolen auf Unbewaffnete losgehen. Menschen, die Bomben auf unschuldige Zivilisten abwerfen. Oder Menschen, die willentlich andere mit sich in den Tod reißen. – Nein, es war kein Tag wie jeder andere. Es war ein Tag, an dem ich meinen ganz persönlichen Abgrund kennenlernte. Die Finsternis, zu der ich fähig war. Die Finsternis, die ich anderen zufügen konnte. Und der Verurteilte? Sein Blick war schmerzverzerrt, aber er sagte nichts.

Es war ein Tag, anders als jeder andere. Denn es war ein Tag, an die Finsternis kam.

Es war, als wir auf dem großen Platz standen. Ein furchtbarer Platz. Viele Kreuze standen hier und kleine Blumensträuße zum Gedenken. Ich sah Steine, auf denen stand: „Wir vermissen dich“ oder „Du bleibst immer in unseren Herzen.“ Oder einfach nur die Frage: „Warum?“ Einen Menschen zu verlieren, weil andere es beschlossen haben, oder weil andere keine Rücksicht auf die Opfer nehmen, wenn es um eigene Interessen geht – dies war ihre Stätte. Eine Stätte für die Menschen, die gewaltsam aus dieser Welt gingen. Und für ihre Angehörigen.

Der Verurteilte war nun einer von ihnen. Hier hing er jetzt und wurde qualvoll hingerichtet. „Wenn Gott an dir Gefallen hat, wird Er dich erlösen“, hörte ich da jemanden sagen. Ich blickte noch immer auf die Kreuze: „Wenn Gott an euch Gefallen gehabt hätte, dann hätte Er euch erlöst“, dachte ich weiter. War es wirklich so einfach? Dass Gott allein die erlöst, an denen Er Gefallen hat? Aber das hieße doch, dass Er an so vielen nicht Gefallen hätte, denn wie viele Menschen sind nicht erlöst? Wie viele quälen sich Tag für Tag oder werden gequält?

Der Verurteilte sagte noch immer nichts.

„Er hat Gott vertraut, Der erlöse ihn nun“, hörte ich wieder. Ich zweifelte. Wie könnte der Verurteilte jetzt noch Gottvertrauen haben? Jetzt, wo alle ihn verlassen hatten? „Hilf dir selbst!“, rief ich. „Anderen hast du doch so viel geholfen!“ Doch der Verurteilte schwieg. Er war und blieb verlassen. Eine Finsternis aus Verachtung und Verlassenheit.

Es war ein Tag, so anders als jeder andere. Denn an diesem Tag wurde es finster. Mitten am Tag. Drei Stunden lang. Die Sonne verlor einfach ihren Schein. Dann war da dieses Erdbeben. Die ganze Erde erschütterte. Steine fielen herab und Felsspalten öffneten sich. Manche sagten hinterher, dass sich sogar die Gräber geöffnet hätten. In unserem Gotteshaus bebte es ebenfalls, und unser Heiligtum, es war, als würden unseren Handlungen dort abgebrochen. Als würden sie keine Rolle mehr spielen.

Und der Verurteilte? Plötzlich öffnete er den Mund und schrie. Er schrie aus Leibeskräften. „Warum hast Du mich verlassen“, hörte ich. Zuerst dachte ich, er meinte einen der Menschen, mit denen er gelebt hatte. Seine Familie oder seine Freunde. Denn keiner von ihnen war hier. Alle hatten sie ihn allein gelassen. Einer neben mir sagte, er spräche von Gott. Klar, Gott hatte ihn ja auch verlassen. Sein Gott, auf Den er so vertraut hatte. Dann aber hörte ich die Worte nochmal: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es war keine Anklage. Es war ein Gebet. Der Verurteilte sprach mit Gott. Selbst jetzt noch brachte er vor Gott, was ihn bewegte. Selbst jetzt noch hielt er an Gott fest, fiel nicht ab, obwohl er allen Grund dazu hatte. Nichts, was wir taten, konnte diese Gottesbeziehung brechen.

Es war kein Tag wie jeder andere. Denn es war ein Tag, an dem mitten in der größten Finsternis Gott wirksam wurde. Der Verurteilte half sich nicht, weil er seine Vollmacht eben nicht für sich selbst nutzt. Und doch hatte er nicht verloren. Das Erdbeben sagte es und die Finsternis, sein letzter Schrei sagte es und die geöffneten Gräber sagten es. Und zuletzt sagte es auch ich. Ich glaubte und bezeugte: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“

Amen.

Pfarrerin Franziska Roeber