Miserikordias Domini (18. April 2021)

Der Sonntag Miserikordias Domini – Erbarmen des Herrn – steht im Zeichen des guten Hirten. Es geht um Zugehörigkeit, um Behütetsein.

Wochenspruch:

Christus spricht: „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme
und ich kenne sie und die folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“

Johannes 10,11a.27-28a

Wochenpsalm: 23

1 Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Wochenlieder

1 Der Herr ist mein getreuer Hirt, hält mich in seiner Hute, darin mir gar nicht mangeln wird jemals an einem Gute. Er weidet mich ohn Unterlass, da aufwächst das wohlschmeckend Gras seines heilsamen Wortes.

2 Zum reinen Wasser er mich weist, das mich erquickt so gute, das ist sein werter Heilger Geist, der mich macht wohlgemute; er führet mich auf rechter Straß in seim Gebot ohn Unterlass um seines Namens willen.

3 Ob ich wandert im finstern Tal, fürcht ich doch kein Unglücke in Leid, Verfolgung und Trübsal, in dieser Welte Tücke: denn du bist bei mir stetiglich, dein Stab und Stecken trösten mich, auf dein Wort ich mich lasse.

4 Du b’reitest vor mir einen Tisch vor mein‘ Feind‘ allenthalben, machst mein Herz unverzaget frisch; mein Haupt tust du mir salben mit deinem Geist, der Freuden Öl, und schenkest voll ein meiner Seel deiner geistlichen Freuden.

5 Gutes und viel Barmherzigkeit folgen mir nach im Leben, und ich werd bleiben allezeit im Haus des Herren eben auf Erd in der christlichen G’mein, und nach dem Tode werd ich sein bei Christus, meinem Herren.

EG 274

1 Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt, die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land; er lässt sie nicht verderben, er führt sie aus und ein, im Leben und im Sterben sind sie und bleiben sein.

2 Er kennet seine Scharen am Glauben, der nicht schaut und doch dem Unsichtbaren, als säh er ihn, vertraut; der aus dem Wort gezeuget und durch das Wort sich nährt und vor dem Wort sich beuget und mit dem Wort sich wehrt.

3 Er kennt sie als die Seinen an ihrer Hoffnung Mut, die fröhlich auf dem einen, dass er der Herr ist, ruht, in seiner Wahrheit Glanze sich sonnet frei und kühn, die wunderbare Pflanze, die immerdar ist grün.

4 Er kennt sie an der Liebe, die seiner Liebe Frucht und die mit lauterm Triebe ihm zu gefallen sucht, die andern so begegnet, wie er das Herz bewegt, die segnet, wie er segnet, und trägt, wie er sie trägt.

5 So kennt der Herr die Seinen, wie er sie stets gekannt, die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land am Werk der Gnadentriebe durch seines Geistes Stärk, an Glauben, Hoffnung, Liebe als seiner Gnade Werk.

6 So hilf uns, Herr, zum Glauben und halt uns fest dabei; lass nichts die Hoffnung rauben; die Liebe herzlich sei! Und wird der Tag erscheinen, da dich die Welt wird sehn, so lass uns als die Deinen zu deiner Rechten stehn.

EG 358

Evangelium: Johannes 10,11-16

Jesus Christus spricht: 11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Predigt zu Hesekiel, Kapitel 34

Es ist die Menschheitsfrage, die sich nach Maßgabe der biblischen Legende gleich am Anfang und damit ein für alle Mal stellt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Bin ich für meinen Nachbarn, für die Menschen an meinem Weg mit verantwortlich? Es könnte ja sein, grundsätzlich, dass sie uns nicht wirklich etwas angehen, mögliches Mitleid eigentlich nur Schwäche wäre. Es könnte ja sein, dass grundsätzlich das Recht des Stärkeren gilt, und die Auslese der dann Überlebensfähigeren das eigentliche Grundmuster der Begegnung von Menschen darstellt.

Jene Frage wird ja auch in jener biblischen Geschichte nur rhetorisch gestellt, die Antwort ist eigentlich klar: Meines Bruder Hüter? – das kann niemand, das kannst Du, lieber Gott, nicht von mir verlangen, dass ich auch noch auf meinen Bruder Abel aufpasse! Die Frage reklamiert ein Alibi: Mit solcher permanenten Achtsamkeit, würden wir uns überfordern. Das makabre an dieser rhetorischen Frage aber ist dort: Es ist der Mörder, der sie so stellt. Es ist seine Ausflucht. Damit ist die so gestellte Frage disqualifiziert, für immer. Und damit ist von allem Anfang an die eigentliche, die richtige Antwort klar: Jawohl, du bist – wir alle sind trotz allem unserer Brüder und Schwestern Hüter! Niemand lebt für sich selbst, wir sind aufeinander gewiesen, von allem Anfang an.

In einer von Kleintierzucht (Schafe, Ziegen) geprägten Wirtschaft ist der Hirte das prägende Bild, seine Zuwendung zu den ihm Anvertrauten. Es ist kein Zufall, dass der Psalm, der dieses Bild zelebriert, durch die Jahrhunderte wie kein anderer zitiert, gebetet, gelernt wurde – geliebt. Vielleicht ist er wirklich von David und damit 3000 Jahre alt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln … und grüne Auen und frisches Wasser, … Trost im finsteren Tal, ein gedeckter Tisch im Angesicht der Neider und ‚du schenkst mir voll ein‘.“ Mehr geht nicht an süffiger Zufriedenheit und Glück und Gewissheiten. Dass das Grundmodell des Lebens mit Gott funktioniert, wie es aussieht, unter Menschen aber bestenfalls brüchig ist, wenn es überhaupt klappt, ist der große Kontrast. Es schwingt im Hintergrund Zweifel, Verzweiflung mit an den Mitmenschen, an den Verhältnissen, an Verlässlichkeiten. Es schwingt mit, wenn so geschwelgt wird in paradiesischen Zuständen immer ein gerüttelt Maß an Kritischem: Dass die Verhältnisse so nicht sind. Dieser Psalm wird ja gerade in unseren finsteren Tälern mitgesprochen und mitgebetet, wenn der ‚Tisch im Angesicht der Feinde‘ ganz weit weg ist und ich unterzugehen drohe in der Gemengelage des allzu Irdischen. „Der Herr ist mein Hirte“ drängt sich auf die Lippen, wenn die anderen, nahen Hirten versagen, ich sie aber bräuchte, dringend.

Mit der Menscheitsfrage, ob ich meines Bruders Hüter bin, und dem Psalm begeben wir uns heute nach Babylon: Die große Katastrophe des Volkes Israel, die legendären Mauern von Jerusalem boten doch keinen ewigen Schutz, leere Versprechungen zu Asche und Staub und Tränen, alles ist untergegangen. Da sitzen sie nun an den Ufern von Babylon, weinen auch und sinnen, was da denn passiert ist: Grund und Ursache, wie konnte das geschehen? Und wie nun weiter? Immerhin, sie suchen offenbar nicht die Schuld bei den ach so bösen Anderen, sie schieben sie auch nicht Gott zu: Wir haben es selbst verbaselt, allzu selbstsicher, allzu sorglos und gewiss trotz der Alarmzeichen, uns in trügerischer Sicherheit gewogen, uns die falschen Hirten geleistet, die, wie wir dann gesehen haben, eher ihre Schäflein ins Trockene bringen wollten als Verantwortung für die ganze Herde tragen. Es liegt ja so nahe, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, denen nachzugeben, die am lautesten schreien, die ihr Geschrei noch mit subtilen Drohungen untersetzen können, die Wirtschaft mit sich nach unten zu ziehen, wenn Privilegien wegfallen und womöglich zu einschneidende Maßnahmen ergriffen werden. Es ist doch bis heute bezeichnend, dass gerade die Verzweifelten am ehesten glauben wollen, der Laden läuft von allein wieder, wenn man den Reichen zu futtern gibt, keine Gegenfinanzierung, sondern ein Wechsel auf den Boom, der mit den Scheinen hinten am Ende der sowieso schon Reichen reingeschoben ganz, ganz, ganz sicher ausgelöst werden wird – und dann die Brosamen, die vom Tisch fallen … Das soll jemals anders werden?

Ich lese aus dem Propheten Hesekiel, Kapitel 34 – Es „handelt sich um eine der revolutionärsten Reden. Sie passt zu jedem Volk, zu jedem Staat und zu jeder Epoche“ hat einer der frühen Präsidenten des modernen Staates Israel gemeint:

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 3 Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. 4 Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. 5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. 6 Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht. 7 Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! 8 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, 9 darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! 10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. 11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. 13 Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. … 31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Was aus den untauglichen Hirten wird? Strafe? Oder nur zurück in die Herde? So, wie es hier steht: gegen fett und stark und zufrieden ist nichts zu sagen, das muss ja nicht auf Betrug hindeuten. Insofern, doch ja: Wo es Menschen gut geht, wird es auch dann dabei bleiben, hier gibt es kein Aufwiegen, hier schlecht, dann da gut – und umgekehrt. „Ich will weiden, wie es recht ist“ – kein Reichen-Bashing: Recht.

Das hat offenbar ein paar Abschreibern nicht gefallen oder sie konnten es in ihrem Gerechtigkeitsgefühl nicht glauben: Jedenfalls gibt es ein paar Abschriften – nur durch Abschriften von Abschriften von Abschriften haben wir diese alten Texte, Buchdruck, vernünftiges Papier und bewegliche Lettern gab es erst zwei Jahrtausende später – jedenfalls gibt es ein paar Abschriften, die entschlossen abändern: „… und, was fett und stark ist, vertilgen“. Ein D ist im Hebräischen ein nach unten verlängerter Winkel, ein R hat statt der Ecke einen Bogen, da kann man sich schon mal verlesen. „Aschmid“ heißt behüten, „aschmir“ vertilgen. Und ‚vertilgen‘ hört sich, wenn schwarz-weiß gemalt wird, doch viel besser an. Was fett und stark geworden war, stand im Verdacht, Unrecht zu sein. Natürlich, logisch.

Wolf Biermann hat zur Wendezeit über die DDR-Bonzen, die verdorbenen Greise, gesungen: „Wir woll’n euch doch nicht ins Verderben stürzen, ihr seid schon verdorben genug. Nicht Rache, sondern Rente im Wandlitzer Ghetto und Friede eurem letzten Atemzug.“ Also wahrscheinlich dann doch: auch das Fett und Starke behüten, wie alles, jedenfalls wenn es recht ist. Rachefeldzüge, Kreuzigungen, Schuldzuweisungen immer an die anderen – das war schon damals, lange, lange vor Jesus nicht die Lösung. Sich nicht an der Todesstrafe hochziehen, Hilflosigkeit und Verzweiflung in ohnmächtiger Wut an irgendwelchen stellvertretenden Opfern auslassen und damit so tun, als würde Entscheidendes getan. Merke: Die nach Rache gieren, haben kein Interesse – oder keinen Mut, genauer hinzusehen und Lösungen für alle zu suchen. So werden in der Türkei alle, die differenziert die Probleme auf den Tisch legen als Terroristen defamiert. Oder eben gleich als Verschwörer abgetan. Die ehemaligen, aber schlechten Hirten Israels landen bei Hesekiel mitten in ihrer einstigen Herde, ihnen wird gleiche Fürsorge zuteil. Selbst, wenn es manche Schreiber und manche Leser nicht aushalten.

Das ist in der Gottesrede des Hesekiel aber nur ein Nebenaspekt, selbst wenn er ein bezeichnendes Licht auf alles wirft. Einig sind sich die Leute da in Babylon, weinend am Ufer sitzend, in der Analyse: Wir haben es selbst verbaselt. Wir haben zu lange diesen falschen, fetten Hirten die Verantwortung überlassen. Versuche hat es ja immer wieder gegeben, das Ruder herumzureißen, nie gelang es auf Dauer, so gut vieles gemeint war, und wenn Revolution, dann war es mit den neuen Pappnasen schnell wieder genauso wie mit den gerade verjagten, es ging nur im Pfründe, nie um wirkliche Änderung. Es scheint nicht zu gehen. Es scheint nicht möglich zu sein unter Menschen. Sie sind – wir sind halt so und das hat immer wieder eine Eigendynamik. Selbst wenn, was nicht absehbar ist, wir noch einmal eine Chance bekommen – es wird wieder so sein, so ähnlich. Besserung nicht in Sicht. Finden wir uns also ab damit, dass es nun einmal so ist und unvermeidlich und Macht hat offenbar eine Eigendynamik, der sich niemand wirklich entziehen kann und die Puristen werden oft zu den Schlimmsten, aber Anarchie ist auch ganz und gar nicht erstrebenswert. Das Dilemma des allzu Menschlichen, dem sich kein Politiker entziehen kann.

Gegen solcherart Defätismus geht Hesekiel an, oder besser: Redet Gott im Munde Hesekiels selbst an. Nein Leute, es muss nicht alles so sein, so wieder werden, es geht anders. Ich werde euch nicht wieder euch selbst überlassen, ich werde dann selbst für eine ganz andere Dynamik sorgen: Eine Dynamik von Recht und Gerechtigkeit. Nicht Gleichmacherei, aber auch nicht jedes Vorrecht für Erfolgreichere. Weder besondere Pflege der staatstragenden Eliten noch die Hängematte für Trittbrettfahrer, kein Missbrauch der einen noch der anderen. Ein Traum, wenn das gelingen könnte.

Die Botschaft für die Gefangenen, fern der Heimat und verloren dort an den Ufern von Babylon, eigentlich ohne Zukunft: Nein, es ist nicht vorbei. Gott gibt nicht auf, macht nicht Schluss mit euch. Im Gegenteil: Es geht noch einmal ganz neu los. Wir lassen uns nicht das Mark aus den Knochen ziehen ob all der Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit im unabsehbaren Hamsterrad. Und wenn es wieder losgeht, wird es nicht so sein wie vorher, mit dem Geburtsfehler von Ungerechtigkeiten, mit der verhängnisvollen Eigendynamik von Macht, die immer zwischen Abhängigkeiten und Bestechlichkeit lavieren muss, Interessen wahrnehmen und gleichzeitig begrenzen, austarieren. Mit all den Versuchungen, doch mal dies und mal jenes mitzunehmen, sich der Einschüchterung durch Macht zu beugen oder sie eben auch ein andermal zu nutzen. Gott hat den großen Vorteil, dass seine Interessen nicht im Spiel sind: Er ist unbestechlich, unkorrumpierbar. Und offenbar wild entschlossen, sich diesmal genau so einzumischen. Den Dingen in ihrem Forttreiben in den Weg zu treten, nicht mehr der stille Beobachter und Kritiker, sondern der, der sich selbst dazwischen stellt, wenn Macht übergriffig wird. Gott relativiert alle Macht von Menschen über Menschen: Er begrenzt Macht: Ihr dürft nicht alles. Er setzt die Maßstäbe. Er nimmt Macht in Verantwortung: Es gibt keine Macht um ihrer selbst willen, es heiligt nicht der Zweck die Mittel, ganz und gar nicht. Macht verpflichtet zum Eintreten gerade für die, die ohne das Eingreifen ausgeliefert wären und hilflos.

In dieser Woche hat es ein Ministerpräsident beispielhaft ausgesprochen, was sowieso schon Verdacht war: Es ginge ja gar nicht um Moral, sondern es geht ganz klar und nur um Macht, und wenn es um Macht geht, dann nehmen wir den Kandidaten, der da eher Erfolg verspricht. Ich als Wähler und im Bilde als betroffenes Schaf sage ganz klar: Es geht einzig und allein um Moral und wem ich da mehr zutraue, und Macht darf immer nur Mittel zum moralischen Zweck sein. So zynisch wie aus dem Munde dieses Parteisoldaten ist selten der wirkliche Gedankengang offengelegt worden.

Gott setzt mit dieser Rede Menschen in Bewegung, die für das Hüten der Schwestern und Brüder einstehen, im Kleinen wie im Großen. Seine Leute, seine Gemeinde, die er aus der Anfälligkeit für solcherart Verlockungen herausnimmt: Ihr habt doch alles, was könntet ihr dann noch wollen? Das, was euch ausmacht, das steht nicht immer auf dem Spiel, das schenke ich euch vorab: Mein Versprechen wackelt nicht. Es geht nie um alles, es geht nie ums Ganze – das ist meine Sache. Und wenn nicht alles auf dem Spiel steht, gehen Menschen viel gelassener, viel besonnener um mit den Dingen, die sie zu entscheiden, zu richten haben. Damals war es das Versprechen, für uns ist es die Taufe: Das Entscheidende ist gesagt, ist getan, wer ihr seid und als was ihr wahrgenommen werdet – das steht fest. Ihr müsst niemandem mehr etwas beweisen, ihr seid nicht gezwungen auf das zu sehen, was für euch selbst dabei herauskommt.

Das ist die „Barmherzigkeit des Herrn“, die wir an diesem Sonntag feiern, feiern mit dem 23. Psalm und mit Jesus, dem guten Hirten, feiern im Hören von so alten, revolutionären Prophetenworten.

Schwache nicht gestärkt – Kranke nicht geheilt – Verwundete nicht verbunden – Verirrte nicht zurückgeholt – Verlorene nicht gesucht – Das alles: Menschliches Versagen. Wir kennen das. Verlorene gesucht – Verirrte zurückgebracht – Wunden verbunden – Schwache getragen – Für gute Hirten selbstverständlich. Wie für Gott: „Ich will euer Gotts sein.“

Bei Jesus heißt das: Hunger und Durst stillen, Fremde aufnehmen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen. In der Tradition wurde aus einer anderen biblischen Quelle noch zugefügt: Tote begraben. Das sind die sieben Werke der Barmherzigkeit, die dem christlichen Abendland Gestalt gegeben haben.

Weil Gott mit seiner Einrede Menschen dafür in Bewegung setzt, sind es Werke der Barmherzigkeit Gottes. Wir wünschen sie uns.

Pfarrer Hartmut Scheel