Sonntag Estomihi (14. Februar 2021)

Der Sonntag vor der Passionszeit nimmt den bevorstehenden Weg Jesu in den Blick und stellt damit die Frage nach der Nachfolge: “Was tun wir? Wie verhalten wir uns zu dem, was Jesus ans Kreuz bringt?“

Wochenspruch:

„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.“ Lukas 18,31

Wochenpsalm: 31A

2 HERR, auf dich traue ich, / lass mich nimmermehr zuschanden werden, errette mich durch deine Gerechtigkeit!
3 Neige deine Ohren zu mir, hilf mir eilends! Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest! 4 Denn du bist mein Fels und meine Burg, und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen. 5 Du wollest mich aus dem Netze ziehen, / das sie mir heimlich stellten; denn du bist meine Stärke. 6 In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott.

7 Ich hasse, die sich halten an nichtige Götzen; ich aber vertraue auf den HERRN. 8 Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und kennst die Not meiner Seele 9 und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes; du stellst meine Füße auf weiten Raum. 16 Meine Zeit steht in deinen Händen. Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. 17 Lass leuchten dein Antlitz über deinem Knecht; hilf mir durch deine Güte!

Wochenlieder

1 Liebe, die du mich zum Bilde / deiner Gottheit hast gemacht, / Liebe, die du mich so milde / nach dem Fall hast wiederbracht: / Liebe, dir ergeb ich mich, / dein zu bleiben ewiglich.

2 Liebe, die du mich erkoren, eh ich noch geschaffen war, Liebe, die du Mensch geboren und mir gleich wardst ganz und gar: Liebe, dir ergeb ich mich …

3 Liebe, die für mich gelitten / und gestorben in der Zeit, / Liebe, die mir hat erstritten / ewge Lust und Seligkeit: Liebe, dir ergeb ich mich …

4 Liebe, die du Kraft und Leben, / Licht und Wahrheit, Geist und Wort, / Liebe, die sich ganz ergeben mir zum Heil und Seelenhort: / Liebe, dir ergeb ich mich …

5 Liebe, die mich hat gebunden / an ihr Joch mit Leib und Sinn, / Liebe, die mich überwunden / und mein Herz hat ganz dahin: / Liebe, dir ergeb ich mich …

6 Liebe, die mich ewig liebet / und für meine Seele bitt‘, / Liebe, die das Lösgeld gibet / und mich kräftiglich vertritt: / Liebe, dir ergeb ich mich …

7 Liebe, die mich wird erwecken / aus dem Grab der Sterblichkeit, / Liebe, die mich wird umstecken / mit dem Laub der Herrlichkeit: / Liebe, dir ergeb ich mich …

EG 401

1 Wir gehn hinauf nach Jerusalem / in leidender Liebe Zeiten / und sehen, wie einer für alle stirbt, / um uns einen Platz zu bereiten.

2 Wir gehn hinauf nach Jerusalem. / Wer will bei dem Herren bleiben / und kosten von einem so bittern Kelch? / Die Angst soll uns nicht von ihm treiben.

3 Wir gehen hinauf nach Jerusalem, / das Opfer der Welt zu sehen, / zu spüren, wie unsere Not vergeht, / und unter dem Kreuz zu stehen.

4 Wir gehen hinauf nach Jerusalem, / zur Stätte der ewgen Klarheit. / Wo Leiden und Ohnmacht in unserer Welt, / da finden wir Christus in Wahrheit..

EG.E 3

Evangelium Markus 8,31-38

31 Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. 32 Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. 33 Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. 34 Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. 35 Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten. 36 Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? 37 Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? 38 Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

Predigtext Jesaja 58,1-9a

1 Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! 2 Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei. 3 »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. 4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. 5 Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? 6 Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Mancher von Ihnen wird das kennen: Eine junge Frau im knappen Bikini joggt über den Bildschirm, in Zeitlupe, die jede Bewegung noch eindrücklicher macht: Sie zeigt ihren Körper, kann ihn zeigen, schlank und sportlich – ein Hund mit dem gegenteiligen Eindruck hechelt mit Mühe nebenher. Oder: Eine junge Frau lässt sich von ihrem Fahrer aus dem Auto helfen, dick eingehüllt in einen Mantel geht sie eine Treppe hoch, klingelt. Im Blickfeld der geöffneten Tür entblößt sie sich unter dem Mantel, zeigt ihren Körper – der Hund kontrastiert wieder. Werbung für eine Diäthilfe, die dann auch noch zu schmecken scheint.

Das Fasten beim alten Propheten Jesaja hat einen anderen Hintergrund. In diese Woche fällt der Aschermittwoch, alles ist vorbei – was eigentlich? Es ist Eintritt in die Passionszeit. Nach alter Tradition, die aber um uns herum neu entdeckt wird: Fastenzeit. Etwas anderes als die lebensspendende Diät der rank-sportlichen jungen Frau in der beschriebenen Werbung – oder auch nicht: Das Ziel ist: Gefallen, dort die Blicke der Männer, hier der Blick Gottes. Gefallen wollen, sich gut fühlen in den wohlwollenden Blicken, die das Resultat der Enthaltsamkeit streifen.

Gottes Wohlwollen zu erlangen – darum geht es im Fasten. Und das ist schwer, so ganz anders, als die Werbung suggeriert. 40 Tage um Gottes Wohlwollen ringen, sogar 46 Tage, wenn man die Sonntage mitzählt, Verzicht, Sack und Asche, das Leben auf Sparflamme. Nach den tollen Tagen, in denen das Leben gefeiert wird, Tristesse. Man könnte denken, es ginge um Abbitte dafür, dass man gerade über die Stränge geschlagen hat – es ist aber umgekehrt: Weil die Fastenzeit ansteht, wird bis kurz vor knapp die Lebensfreude inszeniert, lässt man und frau sich noch einmal gehen und notfalls die Sau raus, Fastnacht, Rosenmontag.

Ich werde wieder versuchen, die Fastenzeit durchzuhalten: nichts Süßes, Kuchen, Schokolade, nichts Alkoholisches, bis Ostern. Es geht auch ohne. Ich weiß, dass ich anfällig bin für Süchte – jetzt halte ich mal dagegen. Hauptsächlich, um es mir selbst zu beweisen: Ich kann das, es geht. Ein bisschen Solidarität mit denen, die ihren Süchten erliegen und unterliegen, gänzlich, dem Zerstörerischen, das da lauert. Ein bisschen Protest gegen die Bedingungen, unter denen Kakao gewonnen wird, obwohl ich den dabei Ausgebeuteten mit meinem ja auch nur zeitweiligen Boykott ganz und gar nicht helfe, ich weiß.

Ein bisschen – ich gebe es zu – Solidarität mit Jesus, „der es nicht für einen Raub nahm, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an …“ wie es in einem Lied offenbar in der ersten Christenheit hieß, ein bisschen mit ihm gehen und den Gegenwind aushalten: Quer stehen und sich nicht bestechen, sich nicht aus eigensüchtigen Motiven abbringen lassen davon, die Wahrheit hochzuhalten gegen Widerstände in einer verdorbenen Welt. Durchhalten, sich nicht kaufen und locken zu lassen vom süßen, schönen – scheinbar schönen – Leben, sondern die Konsequenzen tragen und durchstehen. Um des Lebens willen.

Die Leute, denen der späte Jesaja da prophetisch entgegentritt – etwas weniger als 2500 Jahre ist das wohl her – diese Leute wollen Gott gefallen, geben sich Mühe, große Mühe, fordern Gottes Beifall ein, und noch mehr.

Gott aber schweigt. Möglicherweise ist die fromme Übung in Gewohnheit erstickt, läuft nur noch nebenher irgendwie. Möglicherweise geben sie sich aber auch gar keine Mühe mehr, weil sie wissen, es nützt sowieso nichts: Der Glaube, Gott selbst steht in Frage: Das Spiel funktioniert nicht. Es breitet sich die große Gleichgültigkeit aus: Wozu? Verlorene Liebesmüh, Gott sieht es doch nicht, niemand sieht es, niemand kümmert es. Wozu dann noch? Auch die junge Dame des Werbespotts wird nicht mehr über den Strand schweben, wenn es niemand sieht. Wozu auch? Wozu all die Mühe, Selbstdisziplin, all die Skrupel, das Fragen, wenn da niemand ist, der sich dafür interessiert?

Die Antwort des Propheten ist eine neue Perspektive: Es geht nicht um dich selbst, um dein eigenes Wohlbefinden, um deine Anerkennung, es geht nicht um dein Seelenheil. Wo es dabei bliebe, wo das das heimliche oder offene Ziel aller Kopfstände ist, wäre höchstes Misstrauen angesagt. Egoistische Motive sind dem Glauben fremd. Sich selbst oder auch nur seine Seele zu retten, was immer, ist nicht Ziel des Glaubens und darf es nicht werden. Wo Menschen bei ihrer Sorge um sich selbst gepackt werden sollen oder die Sorge um sich selbst alles beherrscht, ist Gott verleugnet – Generationen von Christen haben das vergessen: Es ist doch ein ach so schöner Missionshebel.

Nein, es geht im Glauben – es geht Gott um Menschen, um ihr Miteinander, um Soziales! Nicht Übervorteilung, sondern Gegenseitigkeit. Um Fairness, nicht um Nötigung und Ausnutzung. Nicht um Gewalt und die Macht des Stärkeren, sondern um Verantwortlichkeit und Lebensmöglichkeiten.

Ein ganz großes Missverständnis muss an dieser Stelle ausgeräumt werden: Das eigentliche Leben bestände im Verzicht! Das bessere Leben führten im Mittelalter Nonnen und Mönche, gottgefällig ist Enthaltsamkeit: arm, fremdbestimmt und vor allem keusch. Himmlisch lebt man bis heute zölibatär. In Sack und Asche oder meditierend entsagend gefallen wir Gott: bußfertig. Die Freuden des Lebens sind Ablenkungen vom besseren Jenseits, sind per se Sünde – das wahre Leben, das vor Gott bestehen kann, ist Enthaltsamkeit, Verzicht, Entsagung, Fasten …

Soll ich daran Gefallen haben – fragt Gott im Munde des Propheten sarkastisch: Hängende Köpfe, den Blick nach unten, und Sack und Asche – der Aschermittwoch als Fanal des wahren, eigentlichen, gottgewollten Lebens? Fasten als angemessene Lebensmaxime vor Gott? Was steckt da für ein Denken hinter: Die Aufgabe, der Auftrag des Lebens ist das Aufgeben des Lebens? Der Gewinn des Lebens ist sein Drangeben?

Genau an diesem Punkt ist Jesus mit den Frommen, den Gottes-Junkies seiner Zeit aneinandergeraten: Die sehr ernsthaften Pharisäer wie die bußfertigen Johannesjünger sind höchst irritiert: Jesus fastet nicht. Jesus ist kein Asket. Seine Botschaft enthält keinen weltentsagenden Zug. Man hat gelegentlich den gegenteiligen Eindruck: Jesus wird als Fresser und Weinsäufer denunziert und macht sich gar nicht die Mühe, das zu widerlegen. Im Namen Gottes kein Aufruf zur Enthaltsamkeit, sondern im Gegenteil: Die Einladung zum Feiern, zum Fest. Die Schlüsselgeschichte ist das große Abendmahl, die Einladung an alle und jeden. Auch und gerade an die, die nicht berechtigt scheinen, die es nicht verdient haben, die sich vor Gottes Augen, so wie wir sie uns vorstellen, notorisch disqualifizieren, „Freund der Zöllner und Sünder“, des Abschaums, sogar der Huren … Wo kommen wir denn da hin? Wahres Leben ist der Verzicht auf Leben. Alles andere ist unfromm, wird Gott nicht gerecht. – Wir können es verstehen, dass Jesus sehr irritiert hat. Die Propheten haben das manchmal auch.

Die große Einladung zum Feiern des Lebens hat Folgen: Ein Fest macht allein keinen Spaß, erst Gäste machen einem das Feiern zur Freude. Dort, wo es gelingt, nicht nur den Egoismus als Grundhaltung, sondern auch seine Folgen zu überwinden: dort ist wahres Leben. Wo Platz ist für die anderen, für die, die anders sind, wo es geradezu darauf angelegt wird, sie einzubeziehen, wo Gemeinschaft nicht mehr ohne sie sein will, sondern an ihnen freut, da spielt die Musik.

Jede Einschränkung ist Unrecht und das Joch gehört weggenommen, keine Auflagen, Bedingungen, sondern Offenheit, Bereitschaft, sich auf dich einzulassen, mich zu verändern. Brich den Hungrigen dein Brot – Essen, das Festmahl macht erst Spaß, wenn es geteilt wird. Führe die im Elend ohne Obdach in dein Haus – erst so kommt Leben in die Bude. Die Nackten und Bloßgestellten: Bekleide sie, mache sie zum Augenschmaus, der unter lebensfroher Kleidung mehr verspricht, als nackte Haut vorgaukeln kann und unförmige Hunde als Kontrast braucht.

Klar ist auch: Gemeinschaft mit Menschen, Gemeinsamkeit, Gemeinde erfordern Opfer, Zurückstecken, Ausgleich, Kompromisse, Teilen, auch Aushalten, Dulden. Das ist das wirkliche Fasten: Sich darauf einlassen, den Eintrittspreis für das Fest zahlen. Deutlich sollte aber sein: Das sind keine Kosten, das ist kein Verzicht, sondern Gewinn! Du stehst im Licht, du wirst selbst heil und ins Recht gesetzt. Die Herrlichkeit Gottes gilt dir. Das verspricht der späte Prophet. Es ist ja ein ungewöhnlicher Gedanke: Fasten nicht als Verzicht auf Kuchen und Schokolade, sondern als Teilen: meinen Reichtum zugunsten des Lebens zu investieren. Fasten als Investition ins Leben. Dafür Phantasie zu entwickeln! Als Investition in mein Leben, indem ich in die anderen investiere! Geteilte Freude ist doppelte Freude. Geteiltes Leben ist vervielfachtes Leben.

Und Gott ist ein Gott des Lebens, nicht des Verzichts. Und Jesus tritt für das Leben ein und hält all das Lebensfeindliche aus, hält bis zum bitteren Ende die Fahne des Lebens hoch. Am Aschermittwoch ist ganz und gar nicht alles vorbei, da geht das Leben erst wirklich los.

Pfarrer Hartmut Scheel