Der letzte Sonntag in der Passionszeit feiert eigentlich den Einzug: das Kommen Jesu. Das aber in dem Wissen, wie schnell der Jubel umschlägt in sein Gegenteil. Es geht um die Konfrontation von Erwartungen und ihrer Enttäuschung und um den Mut zum Dagegenhalten.
Wochenspruch:
„Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“
Johannes 3,14b.15
Wochenpsalm: 69
2 Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
3 Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen.
4 Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott.
8 Denn um deinetwillen trage ich Schmach, mein Angesicht ist voller Schande.
9 Ich bin fremd geworden meinen Brüdern und unbekannt den Kindern meiner Mutter;
10 denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.
14 Ich aber bete, HERR, zu dir zur Zeit der Gnade; Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.
21b Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine.
22 Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.
30 Ich aber bin elend und voller Schmerzen. Gott, deine Hilfe schütze mich!
Wochenlieder:
1 Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.
2 Vereint mit Gott, ein Mensch gleich uns auf Erden und bis zum Tod am Kreuz gehorsam werden, an unsrer Statt gemartert und zerschlagen, die Sünde tragen:
3 welch wundervoll hochheiliges Geschäfte! Sinn ich ihm nach, so zagen meine Kräfte, mein Herz erbebt; ich seh und ich empfinde den Fluch der Sünde.
4 Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen; Gott ist die Lieb und lässt die Welt erlösen. Dies kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken am Kreuz erblicken.
5 Seh ich dein Kreuz den Klugen dieser Erden ein Ärgernis und eine Torheit werden: so sei’s doch mir, trotz allen frechen Spottes, die Weisheit Gottes.
6 Es schlägt den Stolz und mein Verdienst darnieder, es stürzt mich tief, und es erhebt mich wieder, lehrt mich mein Glück, macht mich aus Gottes Feinde zu Gottes Freunde.
7 Da du dich selbst für mich dahingegeben, wie könnt ich noch nach meinem Willen leben? Und nicht vielmehr, weil ich dir angehöre, zu deiner Ehre.
8 Ich will nicht Hass mit gleichem Hass vergelten, wenn man mich schilt, nicht rächend wiederschelten, du Heiliger, du Herr und Haupt der Glieder, schaltst auch nicht wieder.
9 Unendlich Glück! Du littest uns zugute. Ich bin versöhnt in deinem teuren Blute. Du hast mein Heil, da du für mich gestorben, am Kreuz erworben.
10 Wenn endlich, Herr, mich meine Sünden kränken, so lass dein Kreuz mir wieder Ruhe schenken. Dein Kreuz, dies sei, wenn ich den Tod einst leide, mir Fried und Freude.
EG 91
1 Dein König kommt in niedern Hüllen, ihn trägt der lastbarn Es’lin Füllen, empfang ihn froh, Jerusalem! Trag ihm entgegen Friedenspalmen, bestreu den Pfad mit grünen Halmen; so ist’s dem Herren angenehm.
2 O mächt’ger Herrscher ohne Heere, gewalt’ger Kämpfer ohne Speere, o Friedefürst von großer Macht! Es wollen dir der Erde Herren den Weg zu deinem
Throne sperren, doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.
3 Dein Reich ist nicht von dieser Erden, doch aller Erde Reiche werden dem, das du gründest, untertan. Bewaffnet mit des Glaubens Worten zieht deine Schar nach allen Orten der Welt hinaus und macht dir Bahn.
4 Und wo du kommst herangezogen, da ebnen sich des Meeres Wogen, es schweigt der Sturm, von dir bedroht. Du kommst, dass auf empörter Erde der neue Bund gestiftet werde, und schlägst in Fessel Sünd und Tod.
5 O Herr von großer Huld und Treue, o komme du auch jetzt aufs neue zu uns, die wir sind schwer verstört. Not ist es, dass du selbst hienieden kommst, zu erneuen deinen Frieden, dagegen sich die Welt empört.
6 O lass dein Licht auf Erden siegen, die Macht der Finsternis erliegen und lösch der Zwietracht Glimmen aus, dass wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen in deines großen Vaters Haus.
EG 14
Evangelium Johannes 12,12-19
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: 15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. 17 Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach
Predigttext: Hebräer 11,1-2; 12,1-3
11,1 Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. 2 In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen. 12,1 Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, 2 und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. 3 Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
Es sind zwei kleine Stück eines Briefes, zwei kleine Abschnitte aus dem Hebräerbrief, die uns in die Karwoche hinein begleiten wollen, eine knappe Erinnerung aus einem Brief voller verzweifelter Hoffnung: Ein großer Aufbruch war da am Anfang, jetzt nur noch die Mühen der Ebene, der große Jubel damals, jetzt das große Gejammer, mehr noch, nicht einmal mehr das: ein lästiges Schulterzucken, Auflösungserscheinungen und das große „Wozu?“. Die Kraft dieses Anfangs wiedergewinnen! Das will der Hebräerbrief. Den Schwung behalten, wieder Fahrt aufnehmen. Wie das geht?
An die Wolke von Zeugen wird erinnert – im Kapitel davor vorgeführt: Die uns vorausgingen, die großen Gestalter unterwegs: An denen orientieren! Aus ihrem Willen und Durchsetzungsvermögen Mut schöpfen. In mühsamen und gleichgültigen Zeiten: Aus den alten Heldengeschichten Kraft schöpfen! Nicht umsonst sind sie uns so wichtig, immer wieder: Allen voran unser Luther, dann auch Paul Gerhardt, immer wieder Bonhoeffer, Martin-Luther King und wer auch immer. Die Wolke unserer Zeugen, zu denen sich harmlos St.Martin gesellt und gelegentlich entdecken wir noch ganz andere Heilige.
Diese Formulierung „Wolke von Zeugen“ hat sich eingeprägt: Wir haben viele Vorgänger – und Vorgängerinnen, an die wir uns halten sollten. Oder? Wolken sind nebulös, verwischen den Horizont. Da ist viel, aber nichts Greifbares – die ganze große Wolke von Zeugen hilft am Ende kaum, hilft gar nicht. Es ist in diesem kleinen Briefabschnitt schon merkwürdig: Da wird das Alte Testament abgeklopft nach tragenden Gestalten, einiges nicht wenig Beeindruckendes zu Tage gefördert, und doch am Ende des vorhergehenden Kapitels: Sie haben es nicht erreicht. Sie haben alle nur Anlauf genommen. Sie sind – auf dem richtigen Weg vor dem Ziel stecken geblieben. „Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben …“ – ihrem Weg, ihrem Vorbild folgen? Ist das die Logik? Offenbar gerade nicht: Die Wolke verbirgt, vernebelt, trotz allem. Oder: Die Wolke ist ein Verweis, ein Achtungszeichen für Weiteres, für ein Mehr, Viel-Mehr. Für Hoffnungen, die sich ihnen nicht erfüllten, die noch offen sind – deren Erfüllung jetzt aber näher, viel näher ist als damals, bei ihnen allen. Vergesst also die Wolke, dreht euch um, seht woanders hin. Weil die ganze aufgeblasene Wolke nicht trägt, nicht wirklich, ist sie eben bestenfalls ein guter Verweis, nicht mehr.
Ist sie ein Verweis auf „Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ – zu dem aufsehen, alles andere vergessen, hinter uns lassen, die ganze Wolke, egal – oder mit ihr nach vorn blicken, auf ihn!
Der Ritt auf dem Esel, der Einzug ist eine Herausforderung: Nein, Jesus kriecht nicht zu Kreuze, packt nicht ein, wenn der Wind von vorn kommt und ins Gesicht bläst. Er lässt die Dinge nicht auf sich beruhen, nichts für ungut, war nicht so gemeint, und wir wollen doch alle irgendwie dasselbe. Jesus reiht sich nicht ein in die Front der Claqueure, die dem Mächtigen und Selbstgewissen huldigen, weil sie, wenn auch selten Recht, am Ende aber doch immer die Macht haben. Gehst du hierhin, geh ich dorthin, und ich halt in die Wüste, da störe ich niemanden mit meinen Ideen, mit den Fragen an das, was ihr gewohnt seid und für selbstverständlich haltet. Nein, Jesus reitet ein auf einem Esel in die Höhle des Löwen, fordert heraus, die Mächtigen und Gewaltigen, setzt Zeichen ohne Rücksicht auf Verluste und all das Harmoniebedürfnis zum großen Fest. Das ist nicht sein Ding: Es gilt irgendwie alles, Unterschiede aushalten und unterschiedslos alles gelten lassen, es lohnt sich kein Streit. Jesus auf dem Esel setzt ein Zeichen der Konfrontation: Es wird gestritten, es wird gekämpft – nicht klein beigegeben, Karriere gemacht irgendwie, Hauptsache gesund und das Geld stimmt. Es ist keine Soße von Irgendwie und Gleichgültigkeit, habt euch doch nicht so und geht eurer Weg, sondern: „Lasst uns laufen … in dem Kampf, der uns bestimmt ist!“ Sicher: mit Geduld! Aber Geduld heißt für Jesus nicht: Den Protest aussetzen, wenn es schwierig wird, heißt nicht: Ausweichen und die nötigen Kompromisse machen. Geduld heißt: nicht vom Gegenwind umblasen, verunsichern, oder gar zum Einpacken zwingen lassen. Geduld heißt: Warten können darauf, dass der Kampf mit einem Erfolg gekrönt wird, am Ende, ganz am Ende. Geduld heißt: Niederlagen, scheinbare und wirkliche Niederlagen aushalten in der klaren Aussicht: Es wird nicht vergeblich sein. Der Ritt auf dem Esel ist eine Herausforderung: Jawohl, ich stelle mich, ich kämpfe, ich halte dagegen und lasse mich von euch nicht kaufen, nicht zur Kapitulation zwingen.
Leben bedeutet immer auch: Konflikt. Das ist uns nicht versprochen, schon gar nicht hier in der Kirche: Ein Rosengarten, eine konfliktfreie Zone, ein Einheitsgefühl, ein Brei von Einverständnis und Geborgenheitsgefühl, egal wie. Leben bedeutet: sich nicht wegdrücken, sondern stellen. Bedeutet nicht sowohl als auch, sondern Bekenntnis. Bedeutet nicht Toleranz, sondern Streit: Streit um die Wahrheit, Streit um den Weg. Und die Karwoche, der Karfreitag ist ganz bestimmt kein Zeichen, nicht die Einladung zum stillen Erdulden, zur Ergebung, ganz im Gegenteil: Der Protest wird aufrechterhalten, durchgehalten bis zum Schluss und mit aller Konsequenz. Gott will keine mittelmäßige Welt, sondern die beste aller möglichen Welten! Deshalb kann Gott auch nicht zustimmen, erst mal einverstanden sein, um dann vielleicht hier und da noch ein paar Hinweise zu geben, na ja. Die Mittelmäßigkeit, die sich als beste aller möglichen Welten spreizt – das ist der Urstand der Sünde. Das Durchlavieren und „Regeln“, die Kapitulation vor dem nun einmal Gegebenen – das ist das, was es Jesus wert war, sein Leben dagegen zu halten. Er hätte es sich gut gehen lassen können, geehrt und umschmeichelt vielleicht, der große Lehrer einer anderen Welt, der weise sich einfügt, sein Sprüchlein dazu sagt, aber so, dass niemand merkt, was er wirklich denkt, dass er niemanden wirklich stört. Den Widerspruch im Kniefall verpacken, die andere Welt im scheinbaren Einverständnis verstecken, das Leben genießen, es ist kurz und mühsam genug, was soll’s. Ja, er hätte Freude haben können. Stattdessen: Dieser scheinbar sinnlose Kampf, das unnötige Opfer, der Gerechtigkeitsfanatiker und Prinzipienreiter, der mit seiner Unbeweglichkeit zum Zerbrechen gebracht wird.
Nein, in der Karwoche ergeht die Einladung zu kämpfen, dagegen zu halten wie er. Die Einladung, notwendige Konflikte anzugehen, nicht auszuweichen. In der Karwoche ergeht auch die Einladung, sich nicht dem Harmoniebedürfnis zu beugen, rücksichtsvoll, und auch das auszuhalten: ein nebliges Harmoniebedürfnis schlägt ganz schnell um in Aggression gegen die Störenfriede des Friedens um jeden Preis. Das Hosianna der Großartigkeit liegt ganz nahe bei jenem „Kreuzige ihn!“ – wir kennen ja die Geschichte. Weg mit ihm, das wollen wir dann doch nicht aushalten, nur irgendwie Ruhe und „Lasst uns doch in Frieden!“ Mit der Karwoche ergeht die Einladung zu kämpfen auch und gerade dort, wo es aussichtslos scheint, wo Blumentöpfe nicht zu gewinnen sind, nur Beulen zu holen. Aber Wahrheit muss Wahrheit bleiben, um Gottes willen und auch und gerade um der Menschen willen.
Die Karwoche ist aber auch nicht zu ertragen ohne Ostern. Zu Jesus aufschauen, der Kreuz und Schande auf sich nahm, den Widerspruch erduldet hat bis zum bitteren Ende. Zu ihm herausgehen vor das Tor und keine bleibende Stadt haben, aber auch so ganz nebenbei, aber wir wissen es ja, wenn wir in die Karwochen gehen: Der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. In seinem Fall ist ganz unten nämlich: ganz oben! In seinem Fall sind wir – am Rande, Außenseiter, Kuriosität, sinnlose Rechthaberei scheinbar – in seinem Fall sind wir auf der richtigen Seite, Gott sei Dank. Der Kampf mit den Windmühlenflügeln ist nicht vergeblich. Das Gegenhalten ist nicht umsonst, das Opfer. Wir sind auf der Seite dessen, den Gott mit seinem Widerstand ins Recht gesetzt hat und auf seinen eigenen Thron. Wir sind auf der Seite dessen, in seinem Gefolge, der wirklich Macht hat gegen die Mächtigen, den sie dann doch nicht kriegen –am Ende kriegt er sie. Wir sind in seinem Gefolge auf der Seite dessen, dem alle Gewalt unterworfen ist im Himmel und auf Erden, und der den Gewalttätigen, aller Nötigung und Erpressung entgegentritt, der der Bosheit, dem Zynismus dieser unserer Welt gewachsen ist, mehr als nur gewachsen. Wir sind auf der Seite dessen, der die Sünde aushält, ihr entgegentritt, und ihr wirksam und erfolgreich alles Recht, auch das Recht des Faktischen bestreitet. Lasst uns aufschauen zu ihm und kämpfen mit hoffnungsvoller Geduld und nicht resignieren, nicht aufgeben, uns nicht drücken. „Fürchtet euch nicht!“
Pfarrer Hartmut Scheel