Angedacht

„Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.“

Römer 14,9

Ein Gerichtssaal. Viele Menschen sind hier versammelt. Sie rufen durcheinander, rufen nach ihren Rechten und zeigen dabei immer wieder auf andere. Sie blicken zum Richter und fordern Antworten. Antworten und einen Schuldspruch. Der Richter versucht zu vermitteln, doch die Stimmung ist aufgeladen und die gegenseitigen Schuldzuschreibungen werden immer hitziger. Dem Richter fällt auf, dass nicht alle an der Diskussion teilnehmen. Manche bleiben stumm, blicken verunsichert, wenn nicht gar beschämt zu ihm, oder trauen sich kaum, den Blick zu heben. Und dann entdeckt er einen, der einen Stift und ein Papier in der Hand hält und unablässig mit dem Kopf schüttelt, während sein Blick durch die Menge schweift. Er scheint genauso unangenehm berührt von der Situation. Ihre Blicke begegnen sich.

Nach einer Weile lächeln sie einander zu und der Mann mit dem Stift erhebt das Wort: „Liebe Schwestern und Brüder, was erreicht ihr, wenn ihr einander verurteilt? Es würde ein Kreislauf werden, in dem ihr irgendwann nicht mehr anders könnt, als allein darauf zu blicken, was der andere falsch gemacht hat.“

Schon wollen die ersten widersprechen, da fährt der Mann ruhig fort: „Ich bitte euch, blickt einmal nach unten zu euren Füßen. “Einige gehorchen und rufen augenblicklich: „Der Boden ist ja durchsichtig!“ Jetzt schauen auch die anderen. Eine Frau aus der Menge sagt verwundert: „In dem Boden unter uns ist ein Kreuz eingelassen.“ „Was soll denn das?“; fragt ein dritter.

Der Mann mit dem Stift antwortet: „Es ist das Kreuz Christi. Das sollte unser Fundament sein, auf dem wir uns bewegen. Nicht die Frage, wer im Recht ist.“ Ein Raunen geht durch die Menge, das allmählich verstummt. Nachdenkliches Schweigen.

„Christus hat alle Schmach in dieser Welt auf sich genommen“, fährt der Mann fort. „Er hat es auf sich genommen für uns. Für jeden von uns. Natürlich machen wir Fehler und natürlich sollten wir die Fehler auch benennen, denn wie soll es sonst besser werden auf der Welt? Aber bitte tut es mit Gnade. Versucht die Perspektive des anderen einzunehmen und ihn zu verstehen. Und verurteilt einander nicht. Denn das letzte Wort hat Christus und nicht wir. Christus ist es, der für uns gestorben und lebendig geworden ist. Christus ist es, der uns zugewandt bleibt – im Leben und im Tod. Erinnert
euch daran.“

Die Menschen blicken ihn an und streben dann allmählich zum Ausgang. Einige gehen sofort hinaus, andere blicken noch lange zum Kreuz, bevor auch sie gehen. Der Richter und der andere bleiben zurück.

„Meinst du, sie haben es verstanden“, fragt der Richter. „Vielleicht“, antwortet der Mann mit dem Stift. „Wer an Christus glaubt, der sucht seinen Weg in dieser Welt. Der sucht Christus auch im anderen.“ „Dafür werde ich beten“, sagt der Richter. „Und ich werde ihnen schreiben“, antwortet Paulus, der Mann mit dem Stift.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine segensreiche Zeit, in der Sie immer wieder die Erfahrung machen, dass Sie von Christus umfangen sind und er Ihnen zugewandt ist.

Es grüßt Sie
Ihre Pfarrerin Franziska Roeber