Manchmal wünsche ich ihn an meiner Seite. Einen Menschen, der Hoffnung hat, und der Gott nahe steht. Gerade in Zeiten wie diesen. Mit all den „Ich-will“ und „Du-musst“-Rufen, die gewaltig und vielfach gewalttätig durch die Straßen dringen. Mit all den sorgenvollen und schmerzverzerrten Gesichtern. Um mich herum und auf all den Bildern, die auf mich einströmen, sobald ich die aktuellen Nachrichten lese. Da wäre es so schön, einen solchen Menschen um mich zu haben. Ein Trotzdem-Mensch: ein Mensch, der trotzdem Hoffnung hat. Der trotzdem lächelt. Der trotzdem spricht: „Gott ist anders. Gott ist barmherzig.“
Vielleicht würde ich mich zunächst aufbäumen. Und sagen: „Der Mensch erdenkt sich doch seinen eigenen Weg. Er ist selbst schlau und weise. Und hat doch fast alles in der Hand.“ Und dann würde ich heftig mit dem Kopf schütteln. Doch weil er ein Trotzdem-Mensch ist, dieser Mann Gottes, würde er sich nicht verunsichern lassen. Er würde sagen: „Der Mensch erdenkt sich zwar seinen Weg, aber er kann trotzdem seinen Schritt lenken lassen“. Und auf meinen fragenden Blick, wie so etwas denn aussehen könnte, würde er anfangen, gemeinsam mit mir zu träumen:
Ein Gerichtsverfahren würde er mir zeigen: Das Papier mit dem Urteil auf dem Tisch der Richterin ist bereits unterschrieben. Noch ehe der Angeklagte überhaupt gehört wird. Die Richterin weiß, was sie zu tun hat. Schließlich ist sie von oberster Stelle instruiert worden. Ich blicke auf die geweiteten Augen des Angeklagten und höre meinen Trotzdem-Menschen sagen: „Noch eine kleine Weile und die Elenden werden sich freuen.“ Und dann sehe ich, wie die Richterin von ihrem Papier aufblickt. Sie sieht auf den Angeklagten und schaut ihn lange, sehr lange an. Sie erkennt die Angst des Angeklagten und stellt unmittelbar eine Frage. Eine offene Frage. Und dann noch eine und noch eine. Der Angeklagte antwortet zunächst zögerlich, dann wird er etwas mutiger, vielleicht auch etwas hoffnungsvoller und erzählt. Ganz klar. Ohne zu dramatisieren. Ohne zu beschönigen. Und die Richterin hört aufmerksam zu. Sie wird nachdenklich und ist es noch, als der Verteidiger spricht. Und am Ende der Verhandlung gibt es ein gerechtes Urteil. Die Richterin hat beide Seiten gehört. Das Papier ist vergessen.
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.
Mein Trotzdem-Mensch und ich träumen weiter: Ich sehe ein Klassenzimmer. Mit vielen Schülern. Einige von ihnen fallen auf. Sie haben andere Normen als die anderen. Sie kleiden sich anders, tragen einen sechszackigen Stern um den Hals oder eine kleine Kappe auf dem Kopf. Sie feiern andere Feste und sprechen von Gott. Ich sehe Zettelchen verteilen und hämische Blicke in Richtung dieser Sternenträger. „Warte nur, bis die Schule aus ist“, höre ich eine Mitschülerin murmeln. Ich blicke auf die verunsicherten Augen des Mädchens, dem diese Worte gelten, und höre meinen Trotzdem-Menschen sagen: „Noch eine kleine Weile und die Elenden werden sich freuen.“ Und dann sehe ich, wie einer von den Zettelchen-Schreibern plötzlich aufblickt. Er sieht das Zittern des Mädchens mit dem Stern um den Hals und erinnert sich an frühere Geschichten, wo diese Sternträger ebenfalls ausgegrenzt wurden, sogar Schlimmeres mit ihnen gemacht wurde, als sie jetzt nach der Schule planen. Warum eigentlich, fragt er sich plötzlich. Was ist denn so falsch an dem, was diese Mitschüler tun oder glauben? Oder ist es doch die Herkunft? Gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem wertlose Menschen wohnen?
Der Mitschüler wartet. Auf den nächsten Redebeitrag des Mädchens. Und dann hört er zu, was sie zu sagen hat. Wie sie die Dinge sieht. In der Pause geht er nach einigem Zögern auf sie zu und fragt. Fragt auch, woran sie glaubt. Sie will erst eine sarkastische Antwort geben, aber antwortet dann doch ganz ruhig und geduldig. Sie ist stolz auf ihren Glauben und auf ihre Familie. Der Mitschüler mit dem Zettel in der Hand wird nachdenklich. Und als nach der Pause ein weiterer Zettel auf seinem Tisch landet, sehe ich, wie er ihn zerreißt.
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.
(Sprüche 16,9)
Liebe Gemeinde,
manchmal nehmen die Konflikte um uns herum kein Ende, ja nehmen sogar noch zu mit durchaus bedrohlichen Ausmaßen. Und dennoch glaube ich fest daran, dass Gott auch darin das letzte Wort hat und behält – und dass wir, die wir an Ihn glauben, an diesem heilvollen Ausgang mitwirken können. Gottes Geist wirkt auch heute noch in uns und mit uns und ich wünsche Ihnen, dass Sie dessen Leuchtkraft gerade jetzt immer wieder erleben – in Begegnungen, die Ihnen wohltun, in Gottes Wort, das Sie tröstet, und in Möglichkeiten wie den obigen, den Geschichten des Lebens zu einem guten Ende zu verhelfen. Denn Jesus Christus verhieß uns:
Ich habe zu euch geredet, dass meine Freude in euch sei, und eure Freude vollkommen werde.
(Johannes 15,11)
In diesem Sinne grüßt Sie Ihre
Pfarrerin Franziska Roeber.