Liebe Gemeindemitglieder,
Sie kennen es sicherlich auch aus Ihrem Leben: Manchmal läuft alles schief, man fühlt sich traurig und einsam oder ist von seinen Problemen überfordert. In solchen Situationen können Menschen sich an Pfarrer*innen wenden und mit ihnen über ihre Situation sprechen und erleben, dass sie begleitet werden, mit ihren Problemen nicht alleine sind. Wie gut, dass es die Seelsorge gibt und sie einen festen Platz in unseren Gemeinden hat.
Als Queerreferent*in möchte ich einen kleinen Einblick in queersensible Seelsorge geben und dazu ermutigen, mich bei Fragen sehr gerne zu kontaktieren. Das können Sie als Gemeindemitglied oder als GKR oder Mitarbeiter*in einer Gemeinde sehr gerne tun.
Was bedeutet queersensible Seelsorge?
“Queer” kommt aus dem Englischen und wurde lange als Schimpfwort benutzt. Heute benutzen viele lesbische, schwule, trans* oder bisexuelle Menschen “queer” als positive Selbstbeschreibung und meinen damit oft einen Sammelbegriff für alle, die nicht heterosexuell sind und/oder sich nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. Seelsorge für queere Menschen bedeutet, den Menschen in all seinen Facetten zu sehen und dem Raum zu geben. Immer noch haben viele, gerade junge Menschen, Angst davor, über ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität zu sprechen. Und in der Gemeinde darüber zu sprechen, ist immer wieder noch schwerer, da z.B. die Diskussion um Homosexualität als “Sünde” immer noch geführt wird und queere Menschen sich bei uns nicht sicher fühlen. In der Seelsorge können die Menschen erleben, dass ihnen zugehört wird und ihre Ängste ausgesprochen werden können. Gleichzeitig vermittelt queersensible Seelsorge: Du bist von Gott geliebt und deine sexuelle und geschlechtliche Identität ist gottgewollt. Du bist gut so, genau wie du bist!”
Was brauchen queersensible Seelsorger*innen?
Wie auch für andere Kontexte ist es wichtig, Menschen aktiv zuzuhören und sie in ihren Situationen wahrzunehmen und nicht zu urteilen. Verschwiegenheit ist hier besonders wichtig, denn nur so können sich ungeoutete queere Menschen öffnen. Seelsorger*innen sollten wichtige Begriffe zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt kennen und gleichzeitig im Bewusstsein haben, dass diese Begriffe unterschiedlich genutzt werden können. Es hilft immer wieder zu fragen: “Was bedeutet dieser Begriff für Sie?”
Queere Menschen haben fast immer diskriminierende Situationen mit Institutionen, bei Arztbesuchen, in der Familie oder auf der Arbeit erlebt. In der Seelsorge kann Raum dafür geschaffen werden, diesen Schmerz zuzulassen, ihn fühlen zu können und damit nicht allein bleiben zu müssen. Vor allem, wenn es in Kirchengemeinden zu Verletzungen kam, ist es sehr wichtig, in der Seelsorge nicht vorschnell in das christliche Thema der Vergebung abzurutschen, da diese Dynamik dem erlebten Schmerz nicht gerecht wird. Vielmehr sollte gesehen werden, welch ein großes Vertrauen einem entgegengebracht wird, wenn nach schmerzhaften Erfahrungen diese dennoch in der
Kirche angesprochen werden.
Besonders Genesis 19, 1-13, Römer 1, 21-27 und 1. Korinther 6, 9-10 werden oft als Argument gegen Queerness angeführt. Seelsorger*innen können hier auf den historischen Kontext aufmerksam machen und erklären, dass diese Stellen nicht gegen Homosexualität oder Queerness gerichtet sind, sondern gegen z.B. Machtmissbrauch.
Queere Menschen brauchen Orte, an denen Vielfalt überall ganz selbstverständlich dazugehört und als Stärke begriffen wird: im Gottesdienst, auf dem Gemeindefest und in den vielen Gesprächen, die es zwischen Tür und Angel gibt oder eben auch ganz besonders in der Seelsorge.
Belá Dörr